INTERVIEW
Leben, um Werte weiterzugeben
Frau Dr. Ute Horn ist Ärztin und machte ihren Facharzt in Dermatologie. Sie hat zusammen mit ihrem Mann, der ebenfalls Arzt ist, fünf leibliche und zwei Adoptiv-Kinder. Sie referiert in Schulen zum Thema „Liebe – Freundschaft – Sexualität“, spricht häufig bei Frühstückstreffen und Wochenendseminaren und ist immer wieder auch in Radio Horeb und beim Evangeliums-Rundfunk zu hören.
Frau Dr. Horn, Sie haben einen Beruf mit langer Ausbildung und sieben Kinder. Was haben Sie gemacht, um Ihre Berufung im Sinne Ihres Berufes und Ihrer Familie leben zu können?
Nach der Ausbildung zur Fachärztin und der Geburt unseres zweiten Kindes blieb ich zu Hause, da wir uns zusammen niederlassen wollten und mein Mann erst auch noch seinen Facharzt in Haut- und Geschlechtskrankheiten machen wollte. Unser Traum war immer eine Doppelpraxis. Dieser rückte allerdings in immer weitere Ferne, da mein Mann viel Freude am Operieren bekam und leitender Oberarzt wurde.
Nebenbei waren wir in der Familienarbeit von „Team F“, hörten viele Vorträge, machten selbst die Ausbildung zum Familientrainer und referierten im eigenen Wohnzimmer. Dabei merkte ich, dass ich ein „Lehrer-Gen“ in mir habe; das Ausarbeiten und Halten der Vorträge machte mir großen Spaß.
Wie kam es dann zu Ihrem Schritt in die Öffentlichkeit? Was hat Sie dazu veranlasst und über welches Thema referierten Sie zuerst?
Als meine Tochter zwölf wurde, fragte ich mich: Was will ich ihr weitergeben zum Thema Sexualität und Liebe? Ich arbeitete ein Referat aus und hielt es vor zehn Frauen. An diesem Abend geschahen zwei seltsame Dinge. Ich dachte einen Gedanken, den ich nie selbst denken würde (das ist meine Formulierung, wenn Gott zu mir spricht), nämlich: „Mit diesem Thema musst du in die Schulen gehen!“ Und meine Freundin, mit der zusammen ich schon seit Jahren für Kinder und Lehrer in Schulen betete, meinte am Ende des Abends zu mir: „Ich habe den Eindruck, dieses Referat hast du nicht zum letzten Mal gehalten, du wirst das noch viel öfters machen!“ Ja, und seither reißen die Termine in Gemeinden und Schulen und das Vermitteln der Werte, die im Geschenk der Sexualität liegen, nicht ab.
Was möchten Sie den jungen Menschen vermitteln? Wie lautet Ihre Botschaft?
Sexualität wird heute als eine Art Hobby angesehen. Der Slogan heißt: möglichst früh mit möglichst Vielen ins Bett zu gehen, damit man viele Erfahrungen hat. Ich persönlich glaube, dass Gott uns die Sexualität für die Ehe geschenkt hat. Sie hat eine hohe Bindungsfähigkeit und ist die einzige Art der Liebe, die nur meinem Mann und mir gehört. Sämtliche andere Arten von Liebe kann ich auch mit anderen Menschen ausüben, aber diese nicht. Deshalb lohnt es sich, auf diesen Menschen zu warten, dieses Geschenk aufzubewahren und sie mit dem Menschen zu teilen, mit dem ich mein ganzes Leben teilen möchte. Dafür stehe ich; das möchte ich weitergeben mit der Einstellung: Ich war dir schon treu, bevor ich dich kannte.
Was erleben Sie in den Schulen? Bekommen Sie da nicht starken Gegenwind?
Ich werde über Lehrer angesprochen, die meist gläubig sind und mich über den Religionsunterricht einladen, und bin vorzugsweise an Schulen mit christlichem Hintergrund tätig, aber auch an Hauptschulen und staatlichen Schulen. Ein Hauptschul-Lehrer sagte mir einmal: „Danke, dass Sie der breiten schweigenden Mehrheit den Rücken stärken! Ich teile Ihre Position nicht, aber Schule ist dafür da, dass Kinder das Pro und das Contra von Dingen kennenlernen und dann ihre eigene Position finden. Ich kenne wenige, die das Pro so überzeugend rüberbringen wie Sie!“
Wir alle tragen die Sehnsucht nach Anerkennung und Wertschätzung in uns, wir alle haben Angst, allein mit unserer Meinung dazustehen, verlacht oder gemobbt zu werden. Deshalb schweigen viele und überlassen das Feld den wenigen, die sich lauthals äußern und die gängige Geh-Richtung vorzugeben suchen.
Was war ein besonders eindrückliches Erlebnis für Sie?
Es war eine Stunde an einem staatlichen Gymnasium. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich schon im Vorhinein zusammengesetzt und gut vorbereitet, denn sie wollten unbedingt mehr Argumente für frühen Sex haben als ich welche dagegen hätte. Und sie haben ihre Sache sehr gut gemacht; sie haben mich so richtig an die Wand diskutiert. Irgendwann dachte ich: Jesus, was passiert denn hier gerade? Ich weiß nicht mehr weiter. Ich brauch‘ jetzt eine geniale Idee!“ So begann ich mit der Klasse zu überlegen: Was ist das Ziel eures Lebens? Ist es eine lebenslange Partnerschaft oder nur das kurze Zusammensein? Das Eine folgt anderen Gesetzmäßigkeiten als das Andere. Wir begannen all ihre Argumente anzuschauen:
Ihr sagt, ihr wollt Erfahrungen sammeln. Erfahrungen sammeln kann auch heißen, verletzt zu werden. Ist das gut für deine spätere Ehe? – Oder es bedeutet, dass du dich an einen Menschen bindest, mit dem du eigentlich gar nicht dein ganzes Leben verbringen möchtest. Ein Mensch ist keine Sache wie ein Handy. Beim Handykauf kannst du zehn Geräte ausprobieren und nach Nr. 10 wieder zu Nr. 3 zurückkehren und dieses erwerben. Beim Menschen geht das nicht. Sexualität geht mit starken Gefühlen einher, und alles, was mit starken Gefühlen einhergeht, behalten wir in uns und vergessen es nicht. Willst du heute Erfahrungen machen, die dein späteres Leben ausbremsen? – Ihr sagt, ihr seid neugierig, ihr wollt einfach ausprobieren, wie es sich anfühlt, egal mit wem. Das heißt, ihr benutzt jemanden, um selbst Erfahrungen zu sammeln. Möchtet ihr von anderen benutzt werden?
So redeten wir miteinander, und dann war mir und ist mir immer wichtig, den Schülern klarzumachen: Es ist an euch, eine Entscheidung zu treffen. Trefft eine gute Entscheidung – ich traue euch das zu. Aber trefft eine Entscheidung nach Abwägen und Kennen aller Gründe und lasst nicht einfach über euch bestimmen.
Eltern von Jugendlichen sind besorgt, wenn ihre Töchter oder Söhne mit Freund oder Freundin nach Hause kommen. Viele meinen, es wäre heute gang und gäbe, dass sie miteinander schlafen und man da eben nichts machen könne, höchstens mit der Tochter zum Frauenarzt gehen, um die Pille verschreiben zu lassen. Wie sind Sie und Ihr Mann bei Ihren Kindern mit dieser Fragestellung umgegangen?
Für mich fängt das viel früher an. Wie erleben unsere Kinder unseren Umgang in der Ehe? Als wertschätzend und liebevoll? Erleben sie Verzeihen, Vergebung und Neubeginn? Ich frage mich öfters im Blick auf mein Verhalten: Wäre ich gern eines meiner Kinder? Wäre ich gerne mein Ehemann?
Ich gestalte viele Elternabende. Oft sitzen da Eltern vor mir, die ungefähr so sagen: „Ich will nicht daran erinnert werden, wie das bei mir war bzw. ist mit der Sexualität oder mit der Ehe. Ich habe vieles falsch gemacht oder vieles ist falsch gelaufen. Also kann ich auch meinem Kind keine Ratschläge geben ...“ Aber das stimmt nicht, denn dann kann ich aus dieser Erfahrung heraus sagen: „Das und jenes war nicht gut – und du kannst es anders machen.“ Zwölfjährige sind nicht mit der Erziehung fertig, wie manche Eltern meinen. Sie brauchen uns, sie brauchen unsere Wegweisung und dass wir für unsere Werte einstehen. Mein Vater sagte zu mir, als ich 15 war: „Ute, das und das wünsche ich mir für dein Leben. Aber falls du früh unehelich ein Kind erwarten solltest, dann mach nicht den nächsten Fehler und treibe es ab, dann spring in meine Arme und erzähl mir das, und dann finden wir wieder einen Weg.“ Als Eltern müssen wir den Spagat leisten: Unseren Kindern vermitteln, was wir für sie wünschen, und gleichzeitig signalisieren, dass wir für sie da sind, wenn es anders kommt, dass wir Wunden verbinden, ihnen wieder aufhelfen, ihnen helfen, mit dem „Schaden“ umgehen zu lernen.
Gib es eine Regel bei Ihnen?
Mein Mann und ich haben ein hohes Maß an Gastfreundschaft. Aber Leute, die nicht verheiratet sind, schlafen bei uns in getrennten Zimmern. Wir dürfen Regeln haben und andere zur Einhaltung dieser Regeln anhalten. Für uns war das immer wichtig: Es gibt offizielle Regeln und die boykottieren wir als Eltern nicht. Wenn auf dem Film „ab zwölf“ draufsteht, schauen wir ihn auch nicht, wenn das Kind erst elf ist. Vorfreude macht unser Leben reich, wir sollten uns und unsere Kinder nicht um diese Freude bringen. Unser Sohn meinte einmal: „Für die anderen in meiner Klasse ist es gar nichts Besonderes, wenn sie zwölf werden, aber für mich geht dann eine ganz neue Welt auf. Welche Filme da plötzlich möglich werden?!“
2012 wurde bei Ihnen ein Hirntumor diagnostiziert, was Sie an den Rand des Todes führte. Wie gingen Sie damals als Familie damit um?
Nach der überraschenden Diagnose wurde ich eine Woche lang auf die Operation vorbereitet. Die Ärzte sagten mir, ich könne sterben, gelähmt werden oder die Sprache verlieren. Seltsamerweise blieb ich völlig ruhig; Gott schenkte mir einen tiefen inneren Frieden. Mein Mann brachte mir jedes Kind einzeln ins Krankenhaus, damit ich in aller Ruhe mit ihnen reden konnte: Was war schön in unserem bisherigen Zusammensein, was war nicht gut? Gibt es noch Missverständnisse oder Versprechen, die nicht eingelöst wurden? Wo willst du noch etwas von mir wissen? Es waren wunderbar tiefe Gespräche. Am Mittwoch sollte ich operiert werden. Am Montag kam wie jeden Morgen die Reinigungskraft in mein Zimmer und sagte auf einmal, sie sei russisch-orthodox und hätte das Gefühl, für mich beten zu müssen. Schon seit Tagen wäre das so und gestern Nacht hätte sie es wieder intensiv gehabt und auch getan. Da hätte Jesus ihr eingegeben, sie solle heute zu mir gehen und mir sagen: „Ich kann dir die Operation nicht ersparen, aber du wirst wieder gesund werden!“ Ich erholte mich dann tatsächlich unglaublich schnell von der OP, und als sie mich zwei Tage später mit meinem Infusionsständer über den Gang gehen sah, kam sie auf mich zu gerannt und umarmte mich mit den Worten: „Unser gemeinsamer Gott hat Wort gehalten!“ Es stellte sich heraus, dass sie eigentlich auf einem anderen Stockwerk arbeitet und nur für die zwei Wochen, während ich hier war, auf meine Station versetzt worden war.
Aus welchen Quellen, Worten oder Bildern leben Sie? Wo holen Sie sich neue Kraft, um nicht auszubrennen?
Ein Wort, das sehr mit mir geht und mir Kraft gibt: „Gott ist meines Fußes Leuchte.“ Was mir inzwischen auch viel bedeutet: „Vergebt einander, wie ihr wollt, dass ich euch vergebe!“
Vielen herzlichen Dank, Frau Dr. Horn, für die Einblicke, die Sie uns in Ihr Leben gewährt haben, für Ihren Mut, die Werte von Freundschaft, Liebe, Sexualität und Ehe verstehbar und lebbar zu machen und vor Diskussionen nicht zurückzuschrecken. Danke auch für Ihre Bücher, die uns helfen können, unseren Kindern diese Werte nahezubringen. Und besonders für Ihren lebendigen Glauben, der Gott voll mit in den Alltag hineinnimmt und IHM sämtliche Türen öffnet, auf dass er wirken kann.
INTERVIEW: CLAUDIA BREHM
Quelle: BEGEGNUNG – Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 1/2020;
www.zeitschrift-begegnung.de